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SSRQ ZH NF I/2/1 253-1

Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Erster Teil: Die Stadtrechte von Zürich und Winterthur. Zweite Reihe: Die Rechtsquellen der Stadt Winterthur. Band 1: Die Rechtsquellen der Stadt Winterthur I, by Bettina Fürderer

Citation: SSRQ ZH NF I/2/1 253-1

License: CC BY-NC-SA

Gerichtsverfahren in Winterthur gegen geständige Delinquenten bei Kapitalverbrechen

1530.

Der Schultheiss von Winterthur eröffnet das Strafverfahren (1). Der Ratsälteste verleiht ihm mit dem Schwert den Blutbann gemäss den von Königen und Kaisern gewährten Privilegien (2). Der oberste Knecht bannt das Gericht, dass niemand mit Worten oder Taten das Verfahren störe, und erhebt mit Hilfe des Fürsprechers Klage (3, 4). Dieser beantragt die Anhörung des Geständnisses und der Zeugen (5). Der oberste Knecht verliest das Geständnis des Angeklagten und ruft die sieben Zeugen auf, die bei dem Verhör anwesend waren und nun unter Eid aussagen (6, 7). Nach Abschluss der Beweiserhebung beantragt der Fürsprecher die Verhängung der Todesstrafe und fordert den Leib des Angeklagten für das Gericht und das Vermögen für die Stadt ein (7, 8), wobei die verhängte Strafe auch denen angedroht wird, die den Tod des Angeklagten rächen wollen (9). Zuletzt fragt der Schultheiss dreimal nach weiteren Klagen (10).

  • Shelfmark: STAW B 3a/1, fol. 60r-v
  • Date of origin: 1530
  • Transmission: Aufzeichnung
  • Substrate: Papier
  • Format h × w (cm): 23.5 × 34.0
  • Language: German
  • Scribe: Gebhard Hegner

1417 gewährte König SigmundPerson: der Stadt WinterthurPlace: das Recht, Todesstrafen und Körperstrafen zu verhängen und zu vollstrecken (SSRQ ZH NF I/2/1 51-1), wobei der Blutbann dem Schultheissen jeweils durch den Ratsältesten verliehen wurde (SSRQ ZH NF I/2/1 101-1). Die erste Blutgerichtsordnung datiert von 1436, sie regelte den Ablauf des Verhörs beschuldigter Personen und das Prozedere nach dem Urteilsspruch (SSRQ ZH NF I/2/1 67-1). Das Blutgericht setzte sich aus jeweils zwölf Mitgliedern des KleinenOrganisation: und des Grossen RatsOrganisation: unter dem Vorsitz des Schultheissen zusammen, wie aus der Vorbemerkung der Verfahrensordnung für Akkusationsprozesse hervorgeht, die im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde (STAW AG 95/1/95, S. 1). Der darin festgelegte Ablauf des Gerichtsverfahrens spiegelt sich jedoch schon in früheren Urteilen wider, vgl. SSRQ ZH NF I/2/1 271-1. Die vorliegende Aufzeichnung ist im Formularbuch des Stadtschreibers Gebhard HegnerPerson: (1522-1537) enthalten. Zum WinterthurerPlace: Blut- oder Malefizgericht vgl. Ganz 1960, S. 282-285; Ganz 1958, S. 273-274; Schmid 1934, S. 54-60.

Das von Gebhard HegnerPerson: angelegte und von seinen Nachfolgern fortgeführte Kopial- und Satzungsbuch, das heute nur mehr in einer Abschrift des 18. Jahrhunderts überliefert ist, sowie das 1629 von Hans Konrad KünzliPerson: angelegte und bis ins 18. Jahrhundert fortgeführte Kopialbuch enthalten eine jüngere und detailliertere Version der Verfahrensordnung für Inquisitionsprozesse, in welchen der oberste Stadtknecht als Ankläger des Delinquenten auftrat. Das Gerichtsverfahren gliederte sich in 14 Einzelschritte (winbib Ms. Fol. 27, S. 389-393; winbib Ms. Fol. 49, S. 649-654). War der Täter flüchtig und erhoben die Hinterbliebenen Anklage, wurde ein sogenannter «landtag» abgehalten, bei dem ein abweichendes Klageverfahren zur Anwendung kam (SSRQ ZH NF I/2/1 271-1). Zu den beiden Verfahrensarten, dem Akkusationsprozess und dem Inquisitionsprozess, vgl. Isenmann 2012, S. 497-498, 504-506; HLS, Prozessrecht; Kabus 2000. Zu den Verfahrensschritten in Form von Frage-Antwort-Formeln im Rahmen der Gerichtseröffnung vgl. Kocher 1971, S. 50-64. Zum Blutgerichtsverfahren der Stadt WinterthurPlace: vgl. Gut 1995, S. 124-129.

Edition Text


Ordnung der fragen, wie die der schultheis
sol thuͦn, so man uber das bluͦt richten
will


Zem ersten fragt der schultheis, oͤb es tag zitDuration: day sig zuͦ richten.1

Zum anderen fragt der schultheis, wie er soͤll sitzen zuͦ richten
nach lut unser loblichen frigheit, so wir hand von keiseren und
kungen. Hieruff sol erkentt werden, das der eltst am rattOrganisation:
dem schultheisen mit dem schwaͤrt nachgender meinung sol den
ban lichen: «Her schultheis, also lich ich uich hie lut unser
loblichen frigheit, so wir hand von kungen und keiseren, den
ban uff klag und antwurt, niemant weder zuͦ lieb oder zuͦ
leid, sonder allein der grechtikeit nach uber das bluͦt zuͦ richten.»

Zem dritten fragt er: «Wie ich hinfur soll richten alls raͤcht
ist?»
Uff das soll erkent werden, das der oberst knaͤcht soͤll
hierin stan und das gricht panen an die hochen buͦß, das
niemant den anderen sumen noch iren soll, weder mit worten oder werken, er well dan ein urtall sprechen oder mit
raͤcht darwider reden.

Am vierden fragt er, wie er witer soͤll faren mit dem raͤchten.
Hieruff soll erkentt werden, das der oberst knaͤcht soͤll hinin stan, sich verfürspraͤchen, ouch raͤtt naͤmen und sin
klag thuͦn.2
Zem fünfften thuͦt der fürspraͤch die clag. a–Und am ersten
begaͤrt er die vergicht zuͦ verhoͤren und sin clag mit 7Amount: 7 manen war zuͦ machen.
Addition inline
–a3

Am saͤchsten4 uff die clag frag den fürspraͤchen, das er sich
erkaͤn uff sin klag. Uff das erkent der fürsprech, das der
knaͤcht sin klag soͤll war machen, und er thu̍eg das oder nit, das
demnach witer beschehe, das do raͤcht ist. Demnach begaͤrt
der knaͤcht sin klag war zuͦ machen, im die vergicht, deren
der arm mensch frig, ledig aller bandenAddition on the left margin by insertion markb verjaͤchen, zuͦ verlaͤsen
Underlined
,
ouch die sibenAmount: 7, so im thurn gewaͤsen, zuͦ verhoͤren, und
naͤmpt sy mit irem namen.5
[fol. 60v]Page break

Zem sibenden6 fragt der schultheis den fürspraͤchen,
wie er witer soll richten, das er raͤcht richt. Uff das erkaͤntt
sich der fürspraͤch, das die sibenAmount: 7, so er gestelt, soͤlin sagen,
so vill sy von dem armen menschen gehoͤrt habin, und soͤlin
darumb schweren, das ir sag ein warheit sig. Uff das heist in
der schultheis dingen uff kundschafft. c–
Und so er dingt, git er der
kundschafft den eid.
Addition on the left margin by insertion mark
–c So kundschafft
gsagt, fragt er witer, oͤb er mer daruff reden woͤll.
Uff das thuͦtt der fürsprech sin raͤcht satz mit beschluß, das
er vermeingtNotable spelling, gnuͦg ußgepracht haben. Daruff fragt der
sschultheis den fürsprechen: «Erken dich daruff.» So erkent sich der
fürspraͤch, das er gnuͦg ußpracht hab. Demnach heist in der
sschultheis sin sach zuͦ raͤcht setzen, das tuͦt er mit disen worten:
Dwill erkent sig, das er gnuͦg ußgebracht hab, so vermein
er soͤlich ubel mit sinem lib und laͤben nach lut unser
loblichen frigheit bu̍etzen soͤlle. Uff das fragt in der sschultheis
an umb ein urtall. Erkenung der urtal nimpt der fürsprech d–ein verdanckAddition below the line–d.

Am achtenden7 fragt der sschultheis, wie er im richt, als recht ist.
Hieruff soll sich der fürspraͤch erkenen, den lib dem grittCorrected: gerichte
und das guͦt gmeiner stat.

Zem nünden8 fragt er, wie er mer richt. Uff das soll
erkent werden, woͤlicher oder woͤliche sich ditz tods annemen oder ublen woͤlten, das der oder die saͤlben in glicher pfenfallCorrected: penfallf und straff sin soͤllen.

Zem zaͤchenden und letsten9 fragt der sschultheis: «Will neͤwar
mer klagen? Ich frag einest, anderst, dristundt, wie
raͤcht ist.»
Laus deoLanguage change: Latin.

Notes

  1. Addition inline.
  2. Addition on the left margin by insertion mark.
  3. Addition on the left margin by insertion mark.
  4. Addition below the line.
  5. Corrected: gericht.
  6. Corrected: penfall.
  1. Eine jüngere Fassung dieser Verfahrensordnung gibt die hier wohl irrtümlich ausgelassene Feststellung des Gerichts wieder: «Soll erkent werden, dwyl es also ver in tag worden, daß einer tags wohl ein meilLength: 1 mile wegs hett mögen reiten, daß es dann nuͦn wohl tags zitDuration: day sige zerichten.» (winbib Ms. Fol. 27, S. 389).
  2. In der jüngeren Verfahrensordnung wird präzisiert, dass der als Ankläger auftretende oberste Stadtknecht ein Mitglied des KleinenOrganisation: oder Grossen RatsOrganisation: zum Fürsprecher nehmen sollte, das nicht an dem Verhör des Angeklagten teilgenommen hatte (winbib Ms. Fol. 27, S. 390).
  3. Drei Mitglieder des Kleinen RatsOrganisation: und vier Mitglieder des Grossen RatsOrganisation: mussten beim Verhör des inhaftierten Delinquenten anwesend sein (winbib Ms. Fol. 27, S. 389).
  4. In der jüngeren Verfahrensordnung sind der fünfte und sechste Prozessschritt zusammengefasst (winbib Ms. Fol. 27, S. 391).
  5. Die sieben als Zeugen aufgebotenen Mitglieder des KleinenOrganisation: und Grossen RatsOrganisation: sollten im weiteren Verlauf nicht mehr vom Schultheissen aufgefordert werden, ihr Urteil abzugeben (winbib Ms. Fol. 27, S. 391).
  6. Dieser Prozessschritt wird in der jüngeren Verfahrensordnung auf den 6. bis 10. Artikel aufgeteilt (winbib Ms. Fol. 27, S. 391).
  7. In der jüngeren Verfahrensordnung wird dieser Schritt im 12. Artikel behandelt. Er folgt einem Prozessschritt, der in der älteren Version nicht enthalten ist, der Umfrage des Schultheissen nach dem Urteilsspruch des Richterkollegiums: «Am einlifften, so der knecht ußgestanden ist, fragt der richter den fürsprechen widerum um ein urteill an und darauff durch umhin, ußgenommen die, wie sie oben genent sind, nit. So die urteill gemehret und der arm mensch verurteilt ist, fragt der richter weiter.» (winbib Ms. Fol. 27, S. 392).
  8. In der jüngeren Verfahrensordnung wird dieser Schritt im 13. Artikel behandelt (winbib Ms. Fol. 27, S. 392).
  9. In der jüngeren Verfahrensordnung wird dieser Schritt im 14. Artikel behandelt (winbib Ms. Fol. 27, S. 393).