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SSRQ ZH NF I/1/3 194-1

Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, I. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Zürich. Neue Folge. Erster Teil: Die Stadtrechte von Zürich und Winterthur. Erste Reihe: Stadt und Territorialstaat Zürich. Band 3: Stadt und Territorialstaat Zürich II (1460 bis Reformation), by Michael Schaffner

Citation: SSRQ ZH NF I/1/3 194-1

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Ordnung der Stadt Zürich betreffend wirtschaftliche Tätigkeiten der Glaubensflüchtlinge aus Locarno und deren Einordnung in Konstaffel und Zünfte

1558.

Bürgermeister Georg Müller sowie Kleiner und Grosser Rat ordnen aufgrund von Klagen aus der Bürgerschaft an, die Locarner weiterhin in brüderlicher Weise in der Stadt zu behalten, ihnen jedoch folgende Bedingungen aufzuerlegen: Die Erteilung des Bürgerrechts an Locarner ist ausgeschlossen, vielmehr sollen sie als Hintersassen in der Stadt verbleiben. Dabei soll jeder das Gewerbe oder Handwerk, das er seit seiner Ankunft betrieben hat, weiterführen (1). Ohne Erlaubnis von Bürgermeister und Rat dürfen sie keine neuen Immobilien erwerben. Mit dem von ihnen betriebenen Gewerbe oder Handwerk unterstehen sie den Satzungen der jeweiligen Zunft, der sie auch Beiträge zu entrichten haben. Die Ausübung mehrerer Gewerbe oder das Übergreifen in die Bereiche anderer Zünfte ist verboten (2). Diejenigen Locarner, die kein Gewerbe oder Handwerk betreiben, sollen wie andere Hintersassen zur Konstaffel gerechnet werden und dort das Fronfastengeld entrichten (3). Als Mitglieder von Konstaffel und Zünften werden sie nicht zu den Zunftversammlungen eingeladen, weder für die Besetzung des Regiments noch für andere Angelegenheiten (4). Da sich in der Vergangenheit Personen unter dem falschen Anschein, protestantische Glaubensflüchtlinge zu sein, in die Stadt eingeschlichen haben, ist das Beherbergen von Fremden nur mit Erlaubnis des Rats erlaubt, bei einer Mark Silber Busse. Aufgenommen werden dürfen nur anerkannte Flüchtlinge, die eine Bescheinigung des Stadtschreibers vorweisen können (5). Als Abgeordnete werden Junker Hans Conrad Escher und Junker Hans Göldli bestimmt. Sie sollen den Locarnern diese Bestimmungen mitteilen und jedes halbe Jahr, oder so oft es ihnen notwendig erscheint, bei den Flüchtlingen Umfrage halten, ob sich jemand unerlaubt in der Stadt aufhält. Ausgenommen davon sind Schüler und Studenten, die weiter als Tischgänger in Zürich wohnen dürfen (6). Den Locarnern soll durch die Abgeordneten nahegelegt werden, dass einige von ihnen für sich und ihre Kinder bei anderen evangelischen Städten eine Bleibe suchen sollen, damit nicht die ganze Last auf der Zürcher Bürgerschaft liegt (7). Bürgermeister und Rat behalten sich vor, diese Bestimmungen zu ändern (8). Bis auf Weiteres soll nicht vom Recht Gebrauch gemacht werden, den Locarnern eine Steuer aufzuerlegen (9).

Die vorliegende Ordnung geht auf einen durch Bürgermeister Georg MüllerPerson: , den Mitgliedern des RechenratsOrganisation: sowie Stadtschreiber Hans Escher vom LuchsPerson: erarbeiteten Entwurf zurück (StAZH A 350.1, Nr. 187). Dieser enthält Anmerkungen zur redaktionellen Umarbeitung des Textes sowie zur Verabschiedung der definitiven Fassung durch KleinenOrganisation: und Grossen RatOrganisation: . Zudem wurde eine lateinische Version der Ordnung verfasst (StAZH A 350.1, Nr. 188).

Die erste Gruppe von protestantischen Flüchtlingen kam im Jahr 1555 von LocarnoPlace: nach ZürichPlace: , einige Zeit später stiessen Flüchtlinge aus ChiavennaPlace: und aus anderen Orten NorditaliensPlace: dazu (HLS, Protestantische Glaubensflüchtlinge). Die vorliegende Ordnung unterstellte die sich mehrheitlich als Kaufleute betätigenden LocarnerOrganisation: unter die Regeln der ZünfteOrganisation: und verwehrte ihnen das Bürgerrecht. Dies wirkte sich zunächst nachteilig auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Glaubensflüchtlinge aus, worauf eine Reihe von ihnen durch den Weiterzug nach BaselPlace: reagierte. Ab 1566 erfolgte jedoch ein bedingter Wechsel in der Politik des RatesOrganisation: , der auch mit einer Anzahl von Einbürgerungen einherging. Davon profitierten unter anderem die aus LocarnoPlace: stammenden Familien MuraltoOrganisation: und OrelliOrganisation: sowie die aus ChiavennaPlace: eingewanderten PestalozziOrganisation: (Lendenmann 1996, S. 142-143; Weisz 1958, S. 29-44).

Die Anwesenheit der LocarnerPlace: Kaufleute trug wesentlich zum Wachstum des ZürcherPlace: Textilgewerbes und zur Herausbildung des Verlagssystems in der Baumwollverarbeitung bei. Zwar war bereits vor ihrer Ankunft das Baumwollgewerbe im Aufschwung begriffen (vgl. dafür die Ordnung betreffend Zollfreiheit, SSRQ ZH NF I/1/3 190-1). Der Beitrag der LocarnerPlace: bestand jedoch in der Erschliessung der norditalienischenPlace: Exportmärkte, wodurch namentlich auf dem wichtigen Umschlagplatz BergamoPlace: vermehrt ZürcherPlace: Textilien gegen Rohseide gehandelt werden konnten, was mittelfristig auch den Aufschwung der Seidenindustrie in der Stadt begünstigte (Pfister 1992, S. 40).

Allgemein zur Gemeinde der LocarnerOrganisation: in ZürichPlace: vgl. Meyer 2005; Meyer 1836.

Edition Text

Ordnung der LuggarnerOrganisation: halber gemacht anno etcAbbreviation 58Date of origin: 1.1.1558 – 31.12.1558

Nachdem under gmeyner burgerschafft von weͣgen der LuggarnerenOrganisation: , so bisshar alhie fryg, on einiche beschwërt, wie ander burger gesëssen, allerley klegten und unwillens verhanden, umb das dieselben mitt iren gwerben unnd handtwerchen, ouch kouffen und empfachen der huͤsern und gëdmern den zünfftenOrganisation: und mëngklichem beschwerlich und überlegen syn wellen. Und aber unser herren die vermelten LuggarnerOrganisation: , in bedenckung der ursachen, wie sy harkomen, eeren und christenlicher liebe halb dheins wegs zuͦ verwysen, sonders sich fürer bruͦderlich und fründtlich mitt inen zuͦ lyden und sy uff zuͦenthalten fürnemens und willens sind, habent gedachte unser herren, burgermeister, klein und gross reth der statt ZürichPlace: Organisation: , zuͦ ableynung der unseren obangezoigten beschwernus und unwillens, und das sich die verwyssten LuggarnerOrganisation: under uns mitt iren gwün und gwërben ouch erneren und enthalten mögind, geordnet und angesechen, namlich:

[1] Erstlich, das unser herren der vermelten LuggarnernOrganisation: dheinen zuͦ burger anemmen wellen, sonders die, so anfangs harkommen sind und zuͦ wërben angefangen oder ire handtwerch getryben hand, söllichs fürter thuͦn und bruchen mögend, als hindersëssen, die under burgerlichem schütz und schirm vergriffen sind.

[2] Das aber sy huser oder gëden kouffen und dadurch die gmeinen burger verhindern und beschwern welten, das soll inen und einem jeden, so nit burger ist, hinfüro fryg abgestrickt und verbotten sin, also, das deren dheiner on erloubtnus unser herren, als der ordenlichen oberkeit, inn der statt dhein huß noch gäden kouffen oder nüw gwerb und läden, die bisshar nitt gehalten sygen, anfachen, tryben noch empfachen. Welliche LuggarnerOrganisation: aber biss uff dise zyt gwërb und handtwerch gehept, huser oder gäden koufft ald empfangen haben, die söllen darbi plyben, doch mitt dem geding und underscheid, [fol. 21v]Page break das alle die, so jetzmaln gwerb oder hanndtwerch trybent, allein ein gwërb oder handtwerch für sich nemmen und sich ein jeder mitt der zünfft, dahin der selb gwerb oder handtwerch dient, umb etwas jerlichenRepeated duration: 1 year gëlts zuͦ gëben vertragen, inn wellichem die zuͤnfft sy bescheidenlich halten, und ein jeder LuggarnerOrganisation: den gwerbs ordnungen und satzungen under die zuͤnfft er dient (wie ein burger schuldig ist) gelaͤben, ouch der selben zünfft noch andern dhein abbruch noch ingriff thuͦn.

[3] Die übrigen LuggarnerOrganisation: aber, so dhein gwerb noch handtwerch trybent, söllen inn die ConstafelOrganisation: dienen, ir frouwvasten gëlt gëben und pflicht thuͦn, wie ein andererAddition above the line by insertion marka hindersëss schuldig ist.1

[4] Und die, so also under Constafel und zünfftOrganisation: gehören werdent, söllend darumb nit für burger geacht noch gehalten, ouch zuͦ dheinen gebotten, es syge inn besatzungen des regiments noch sonst, nit beruͤfft werden, dheins wegs.

[5] Und als für und für lüth under dem schyn der LuggarnernOrganisation: sich on erloubtnus harinn gelassen haͧben, wellent unser herren, das sollichs abgestelt werde, der gestalt, das niemans, weder LuggarnerOrganisation: noch ander, burger ald hindersessen, witer dheine frömbden mer, weder von LuggarisPlace: noch anderschwo har, es sygen wyb oder man, jung oder alt personen, ufenthalten noch beherbergen solle, one eins ersamen ratsOrganisation: erkantnus, by einer march silbersCurrency: 1 mark buͦß. Welliche aber von denselben mynen herren angenommen werden und des brieflichen schyn von einem stattschryber erzoigend, die sollend und mögent inhalt der selben geschrifft one straaf ufgenommen und ënthalten werden.

[6] Unnd zuͦ erhaltung des alles sind jAbbreviation Hans Cuͦnrat ÄscherPerson: und jAbbreviation Hans GöldliPerson: geordnet, die sollen hinfuͤro alle halbe jarRepeated duration: 6 months oder so offt sy nottwendig bedunckt, die LuggarnerOrganisation: und ander frömbd, so alhie sich enthalten, beschicken unnd by iren eyden fragen und erkonen, ob jemans frömbder on erloubtnus harin kommen were, anzuͦzoigen und ufzuͦschriben, damitt man mitt straaf ald verwysung der derselben oder inn ander weg gegen inen zuͤAddition above the line by insertion markbhandlen wüsse. Wo aber eintzig personen den schuͦlen nachziehen, hie zuͦstudieren und sich inn tisch verdingen welten, das soll ungefarlicher wyss, wie bisshar, zuͦgelassen sin.

[fol. 22r]Page break

[7] Diewyl nun unser herren mitt den vaͤtteren und elteren den LuggarnernOrganisation: das best thuͦnd und aber sich mitt iren kinden teglichRepeated duration: 1 day merend und ufwachsend, wellichs mitler zyt gmeyner burgerschafft und den unsern (dero sonst trëffenlich vil sind, die sich kum erneren und began mögent) gantz beschwerlich syn wurde, da sollend die LuggarnerOrganisation: all durch die verordneten bischickt, inen unserer herren erkantnus geoffnet und darbi die vermelten beschwerden angezoigt und ernstlich vermandt werden, uff mitel und weg zuͦtrachten, ob mitler zyt sy oder ire sun by andern evangelischen stetten und orthen under kommen möchten und nitt also der lasst allein uff einer gmeinen burgerschafft alhie lege, sonder ir narrung anderschwo ouch suͦchen solten und möchten.

[8] Söliche gnad und bewilgung der LuggarnernOrganisation: sol nit anders verstanden werden, dann so lang es unseren herren anëmlich und gefellig, die hiemitt ir handt fryg offenn behalten haben wellen, es syge im jar oder sonst, so offt es sy guͦtt bedunckt, inen andere ordnungen zuͦ gëben oder witer ufzuͦleggen ald anderschwo hin zuͦ verwyssen, nach irer gelegenheit, willen und gefallen.

[9] Unnd wiewol unser herren fuͤg gehept, einem jeden etwas inn gmeiner statt seckel zuͦ stür zuͦ gëben ufzuͦerleggen, so ist doch das selbig jetzmaln im besten under lassen. Und soll dises alles dem geschwornen brief und der statt satzungen sonst inn alweg on schaden und on nachteil heisen und syn.

Actum sambstag, den xviij tag brachmonats ano etcAbbreviation lviijDate of origin: 18.6.1558, presentibusIn the original: pnt herr burgermeister MüllerPerson: , cleyn und gross rethOrganisation: .

Notes

  1. Addition above the line by insertion mark.
  2. Addition above the line by insertion mark.
  1. Zur Einordnung von Nichtzünftigen in die KonstaffelOrganisation: vgl. deren Zunftbrief des Jahres 1490 (SSRQ ZH NF I/1/3 49-1).